20 Jahre FBDi – Distribution
im Wandel der Zeit
»Distribution / Supply Chain«

20 Jahre FBDi – Distribution im Wandel: »Distribution / Supply Chain«

Applikationsunter­stüt­zung in der Distri­bution

06. Februar 2024

Darfs noch etwas mehr IP sein?

»Applikationsunterstützung in der Distribution«
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi e.V.

Die Entwicklung der Tech­no­lo­gie­kom­ple­xi­tät in der Elek­tro­nik­in­dus­trie dy­na­misch zu nen­nen, wäre eine scham­lose Unter­trei­bung. Im Zeit­alter hoch­kom­plexer KI-An­wen­dungen fragt sich der Laie:
»Wie kommt eigent­lich ein In­ge­nieur mit so­was zu­recht? Zum Bei­spiel ein Appli­ka­tions­spe­zialist in der Dis­tri­bu­tion? Und wie sieht des­sen An­for­de­rungs­pro­fil in der Zu­kunft aus?«

Die Distribution von Kom­po­nenten war Zeit ihrer Exis­tenz kein reiner Han­del im klas­si­schen Sinn, son­dern im­mer von tech­ni­scher Kom­pe­tenz be­gleitet. Kein Wun­der, kamen doch die Gründer der ers­ten Bau­ele­mente-Distri­bu­toren ent­weder von den Her­stel­lern selbst oder sie waren Tech­niker, In­ge­nieure oder Auto­di­dak­ten mit großer Be­geis­terung für die noch junge Tech­no­lo­gie »Elektronik«.

Wir müssen aber nicht bis an die An­fän­ge der Elek­tro­nik oder der Dis­tri­bution zurück­ge­hen, um zu de­fi­nie­ren, wie tech­nisch ver­siert Distri­bu­tion eigent­lich ist. Einer der ersten als reiner Halb­lei­ter­spe­zia­list ge­grün­de­ter Dis­tri­bu­tor, die heute zum Av­net-Kon­zern ge­hö­ren­de Mün­chner EBV Elek­tronik, möge als Bei­spiel dienen, was die Dis­tri­bu­tion drauf hatte. Gründer Erich Fi­scher und sein »Co-Pilot« Peter Gürt­ler, später selbst le­gen­därer EBV-Chef, stell­ten als Ver­käufer nur Tech­ni­ker und In­ge­nieure (größ­ten­teils mit An­wen­dungs­er­fah­rung beim Kun­den) ein, die das, was sie verkauft­en, haar­klein er­klä­ren konn­ten und auch die An­wen­dun­gen des Kun­den weitest­ge­hend ver­stan­den, um als »trus­ted advisor« gel­ten zu kön­nen.

Der FAE als Welterklärer?

Andere Distributoren, teils früher, aber meis­tens später ge­grün­det, ver­fuhren ähn­lich. Nur damals war von an­de­ren Kom­ple­xi­tä­ten als heute die Rede. Vom simplen 4-Bit-Mikro­con­troller mit we­ni­gen zehn­tau­send Tran­sis­toren und 750 kHz Takt­fre­quenz im Jahr 1972 zum Multi­core-Pro­zes­sor mit 100 Mil­liar­den Tran­sis­toren und über 5 GHz Takt­fre­quenz im Jahr 2022 sind grade mal 50 Jahre ver­gan­gen. Die Inno­vations­ex­plo­sion, die Glo­ba­li­sie­rung des Mark­tes und damit auch die Än­de­rung der Ge­schäfts­mo­delle im Bau­ele­mente­ver­trieb änder­ten auch die Art und Weise, wie tech­ni­sche Unter­stüt­zung funk­tio­niert, wo sie funk­tio­niert und wie sie sich mög­li­cher­weise in den nächs­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dern kann.

Zwei prägende Aspekte der techni­schen Un­ter­stüt­zung in den letzten 30 Jahren waren der »Field Appli­cation En­gi­neer« (FAE) und das Inter­net. Einer der Gründe, warum Di­stri­bu­toren be­gan­nen, Anfang der 90er Jahre Appli­ka­tions­spe­zia­listen ein­zu­stel­len, war die zu­neh­men­de Kom­ple­xität von Pro­dukten – RISC-Pro­zes­soren, Pro­gram­mier­bare Lo­gik, Smart­power-ICs und viele an­dere – ein ande­rer, der Drang der Her­stel­ler, ex­klu­sive tech­ni­sche Ver­mar­ktungs- bzw. »Demand-Creation«-Res­sour­cen zur Be­din­gung eines Fran­chise-Ver­tra­ges zu machen. Das führte so weit, dass Dis­tri­bu­toren bis­wei­len pro 2 Ver­käufer einen FAE be­schäf­tigten, um Projekte zu ge­win­nen und Design-Re­gis­trie­rungen bei den Her­stel­lern vor­zu­neh­men, die dies mit re­lativ hohen De­sign-Boni be­lohn­ten.

Zu dieser Zeit waren tech­ni­sche Ba­sis­in­for­ma­tio­nen nur über Daten­bü­cher und -Blät­ter ver­füg­bar, die Stan­dard­aus­rüs­tung der FAEs bei Kun­den­be­su­chen. Dieser traf auf Kunden, die mit der Fül­le der tech­ni­schen Inno­va­tio­nen ha­der­ten und dank­bar für Ent­schei­dungs­hil­fen waren. Zahl­reiche Tech­no­lo­gie­se­mi­nare und Road­shows, ver­an­stal­tet von Dis­tri­bu­toren, mit Unter­stüt­zung der Her­stel­ler, die keinen Sales-Pitch aus­ließen, er­freu­ten sich regen Be­suchs, manche gar waren als rich­tige Spe­zial­mes­sen mit weit über tau­send Be­su­chern so er­folg­reich wie man­che Mess­e heute nicht mehr (zu­min­dest, wenn es um die An­zahl der Ge­schäfts­ab­schlüs­se ging).

Das Internet als Basis-FAE

Das Internet hat all dies ra­di­kal ge­än­dert. Spä­tes­tens ab 2000 waren Basis­in­for­ma­tio­nen wie Daten­blät­ter und An­wen­dungs­bei­spiele on­line ver­füg­bar, an­fangs selek­tiv, später voll­um­fäng­lich. Manche Her­stel­ler­web­seiten sind aus­ge­baut wie kleine Online-Uni­ver­si­tä­ten mit Wis­sen rund um Pro­dukte und An­wen­dun­gen in jed­we­der audio­vi­su­el­len Form, das seines­glei­chen sucht. Ein Ergeb­nis war, dass viele Ent­wick­ler bei den Kunden heut­zu­tage bei Pro­jekt­start auf einem sehr hohen Basis­ni­veau ope­rie­ren, was Halb­lei­ter­pro­dukte be­trifft.

Welche Folgen hatte das für die Dis­tri­bu­tion und den tech­ni­schen Sup­port? Nun, wie fast alle an­de­ren Boni, die der Dis­tri­bu­tion einst als an­ge­stamm­tes Recht gal­ten, wurden auch die Design-Boni weit­gehend zum Zwecke der Pro­fit­ver­meh­rung der Her­stel­ler zu­neh­mend ein­kas­siert (hier folgt eine Rei­he von wüs­ten Be­schim­pfun­gen, die der Autor dem Le­ser nicht zu­mu­ten wollte…), was es not­wen­dig machte, die Rolle der tech­ni­schen Un­ter­stüt­zung durch Dis­tri­bu­to­ren neu zu de­fi­nie­ren – es gab auch Kun­den­grup­pen (EMS) bzw. Auf­trags­seg­mente (Full­fil­ment), bei denen Hil­fe durch FAEs nicht not­wen­dig war.

Vertikales Fachwissen und Sanity-Check

Die Redefinition der tech­ni­schen Un­ter­stüt­zung fing an mit einer deut­li­chen Spe­zia­li­sie­rung in der tech­ni­schen Kom­pe­tenz, weit über die Pro­dukt­kennt­nis hinaus bis zur Durch­drin­gung man­cher Appli­ka­tions­be­reiche auf der Sys­tem­ebene, spe­ziell bei archi­tek­tur- und soft­ware­ge­trie­be­nen Pro­duk­ten wie Pro­zes­so­ren, Mikro­con­trol­ler oder FPGAs: Be­triebs­sys­teme (CE und Linux), Echt­zeit­be­triebs­sys­teme (RTOS), Soft­ware­ker­nels, Java-Pro­gram­mie­rung gehörten recht schnell zum Stan­dard­re­per­toire der brei­ter auf­ge­stell­ten FAEs, andere wie­de­rum unter­stützen die Kunden ver­ti­ka­ler Seg­men­te mit Fach­wis­sen rund um Auto­mo­tive, Me­dical, Smart-City, IOT und vie­len mehr. Zu Hilfe kam dabei ein deut­lich ver­bes­ser­tes In­for­ma­tions­ma­na­ge­ment, Projekt­daten­ban­ken und Big Data, die aus dem Meer an vor­han­de­nem Wis­sen wieder­ver­wert­bare und mul­ti­pli­zier­bare Infor­ma­tio­nen für Kun­den mach­ten und heute noch tun.

Der Produktspezialist exis­tiert nach wie vor in Be­rei­chen, die extrem kom­plex sind: Ana­log, Mixed-Sig­nal, HF, aber auch Sys­tems-on-Chip. Als Schwer­punkt der Arbeit er­weist sich hier die Be­ra­tung über Neu­hei­ten auf den Her­stel­ler-Road­maps, lan­ge vor dem NPI-(New-Product-Intro­duc­tion-)Pro­zess, was die De­sign­si­cher­heit vieler Kun­den deut­lich ins Po­si­tive be­för­dert. Fokus­kun­den kennen den i.MXRT1180 von NXP schon 1 Jahr vor dem NPI-Start, nicht nur, weil sie die vor­läu­fi­gen Daten­blät­ter schon im In­ter­net ge­scannt ha­ben, son­dern weil der Dis­tri­bu­tions-FAE für den Sa­nity-Check zur Ver­fü­gung steht.

Wenn der eine (oder auch der an­dere) Leser jetzt sagt: »Ja, das sind doch nur we­nige Parade­bei­spiele, die sich in der Brei­te nicht wie­der­finden…«, ant­wor­tet der eine (oder auch der an­dere) Autor zurück: »Wa­rum wer­ben dann so viele Her­stel­ler die in der Dis­tri­bu­tion aus­ge­bil­de­ten In­ge­nieu­re für viel Geld ab, um sie in ihre ei­ge­nen tech­ni­schen Sup­port-Teams ein­zu­rei­hen?« Die Auf­zäh­lung von Beis­pie­len würde den Rah­men des Artikels spren­gen, und wir wol­len ja nicht an­geben.

System-FAE und IP-Berater?

Und wohin geht die Reise nun in 2024 and be­yond? Da reicht ein kurzer Blick auf die tech­ni­sche Ent­wick­lung der Halb­lei­ter­in­dus­trie und dem rie­si­gen Fokus der An­wen­der­in­dus­trie auf die Soft­ware. Zu­nächst die Hard­ware­ent­wick­lung: Die Neu­heit in na­he­zu jeder künf­ti­gen Hard­ware­archi­tek­tur werden KI-Ker­ne sein, die den nor­ma­len Mikro­con­troller oder Pro­zes­sor er­gänzen – die ARM-Road­map zeigt dies ganz klar auf. Wer hier be­ra­ten will, muss KI ver­ste­hen und was sie beim Kun­den an »use cases« (Anvwen­dungs­fällen) sinn­voll un­ter­stüt­zen kann, so­wohl direkt am Ein­satz­ort (Edge-AI) als auch in zen­tra­len Sys­te­men. Die Au­gen­höhe mit des Kun­den App­li­ka­tion ist hier er­folgs­kri­tisch.
Ein weiterer Schritt sind Sys­tems-in-Package (Chiplets). Heute noch die Blee­ding-Edge-Lösung für Data-Center-KI, wird deren An­wen­dung vor Auto­mo­tive- und In­dus­trie-Appli­ka­tio­nen nicht halt machen, zumal die hor­ren­den Kos­ten für Chiplet-De­signs weiter run­ter­kom­men, durch die Ent­kopp­lung teu­rer von we­niger teu­ren Pro­zess­schrit­ten und weil das Packa­ging selbst bes­ser und kosten­güns­tiger hand­hab­bar wer­den wird. Für FAEs be­deu­tet dies je­doch eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Sys­tem­design und Soft­ware auf einer hö­he­ren Kom­ple­xi­täts­stufe als bisher.

Auch Ansprechpart­ner und Pro­dukt­mix ändern sich: Der Soft­ware­in­ge­nieur beim Kun­den trifft mehr Hard­ware­ent­schei­dungen, zumal Soft­ware nicht sel­ten 60 % der System­kosten aus­ma­chen oder gar über­steigen; oft stehen zwi­schen Kun­den und Dis­tri­bu­to­ren (und auch Her­stel­lern) Ent­wick­lungs­dienst­leis­ter, die über­zeugt werden wollen; von Seiten der Chip­her­stel­ler wird, je mehr Mo­dule (SOMs) oder Chip­lets (SIPs) ver­mark­tet werden, immer mehr auf den Ver­kauf von IP und da­mit eine Art Abo-Mo­dell ge­setzt.

Erfolgsfaktor Chatbot-FAE?

Fazit: So die Ingenieure in der Distri­bu­tion (wäre ich In­ge­nieur, würde ich die tech­ni­sche Viel­falt in der Dis­tri­bu­tion im­mer be­vor­zugen) ver­blei­ben, was an­ge­sichts des dro­hen­den In­ge­nieur­man­gels nicht un­be­dingt sicher ist, würde die FAE-Mann­schaft aus mehr Spe­zia­listen be­stehen, vor allem Tech­no­lo­gie­spe­zia­listen (Power, Analog, FPGAs) und Soft­ware­ex­perten (KI und Ma­chine Lear­ning, System-FAEs mit Be­triebs­system­kennt­nis­sen und reine Ver­ti­kal­spe­zia­lis­ten für große Ge­schäfts­be­reiche wie Auto­mo­tive, Me­dical oder auch Motor-Con­trol, die mehr Busi­ness-De­velop­ment oder Stra­te­gie­be­ra­tung be­trei­ben als reinen tech­ni­schen Sup­port und even­tuell auf an­de­ren Manage­ment­ebe­nen beim Kun­den an­klopfen müs­sen als bei Hard­ware­ent­wickler.

Ein weiterer Kollege ist der Chatbot-FAE. Bisher würden Ing­e­nieure wohl die Augen­brauen hoch­zie­hen, wenn Sie Be­ra­tung einer KI in An­spruch neh­men würden, jedoch sehe ich diese Schwel­le bröckeln, je bes­ser die dahin­ter­lie­gende KI in der Hand­ha­bung tech­ni­scher Sup­port-Fragen wird und je drän­gen­der der Inge­nieur­man­gel wird. Her­steller ent­wickeln an sol­chen Lö­sungen für ihre teils her­vor­ra­gen­den Web­sites, weil sie es sich leisten können und weil dies ihre Ex­klu­si­vi­tät be­schützt. Online-Dis­tri­bu­toren machen dies auch, weil sie es sich auch leis­ten kön­nen und der Schritt nach oben in der Nah­rungs­kette vom Klein­stück­zahl­ver­kauf zur Vo­lu­men­dis­tri­bu­tion ver­füh­re­risch (wenn auch schwie­rig) ist. Die großen glo­ba­len Vo­lu­men­dis­tri­bu­toren MÜSSEN dies machen, weil es ei­nige der we­nigen Dif­fe­ren­zie­rungs­mög­lich­kei­ten auf­recht­er­hält. Das gilt im Übri­gen auch für die Ent­wick­lung eines KI-ge­stütz­ten Supply Chain Be­ra­ters. Hof­fent­lich bald, denn hier liegt das Geld der bis­her ver­säumten Di­gi­ta­li­sie­rung auf der Straße.

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