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Per Aspera ad Astra – von der Wachstumsdelle zur »elek­tri­fi­zierten« Ge­sell­schaft

13. August 2024

»Obsoleszenzmanagement« – Das Stiefkind der Digitalisierung
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi e.V.

Drei Jahre ununterbrochenes, wenn nicht gar disruptives Wachstum in der Elektronikindustrie in Europa haben den Distributoren zu neuen Re­kord­um­sätzen mit Bauelementen verholfen.

Ein nicht unerheblicher Teil davon ist in den Lagerbeständen der Kunden gelandet, und die lassen sich nicht kurzfristig in neue Produkte umsetzen.

Es überrascht daher nicht, dass 2024 ein schwaches, sehr schwaches Jahr sein wird. Alle scheinen darauf zu setzen, dass alles von den Lagerbeständen abhängt, die verbraucht werden müssen, damit sich die Dinge zum Besseren wenden. Aber nicht so schnell: Es gibt eine Reihe unangenehmer Störfaktoren, die einen möglichen positiven Aufschwung bremsen könnten.

Die Elektronikindustrie im Allgemeinen und die Distribution im Besonderen haben in den letzten Jahren ein massives Wachstum erlebt, das nicht unbedingt durch Nachfrage, sondern durch Knapp­heit, Panik oder Störungen aus­ge­löst wurde – suchen Sie sich etwas aus. Ein Wachstum von 75 % in drei Jahren, aber: Wo es aufwärts geht, muss es auch abwärts gehen. So haben wir eine Ver­lang­sa­mung des Auftrags­ein­gangs von Ende 2022 bis zum ersten Halbjahr 2024 beobachtet, was sich un­wei­ger­lich in einem Um­satz­rück­gang nieder­schla­gen wird.

Im ersten Quartal 2024 ist der Umsatz im Kom­po­nen­ten­vertrieb in Europa um mehr als 23 % auf 4,5 Mrd. Euro zu­rück­ge­gangen. Das zweite Quartal war noch schlimmer, mit einem Rückgang von 27 % auf rund 4 Mrd. Euro über alle Kom­po­nenten und Regionen hinweg. Viele Kunden verbrauchen nach wie vor ihre Kom­po­nen­ten­be­stände, so dass der Auf­trags­ein­gang noch einige Zeit schwach bleiben wird, mit Aus­wir­kungen auf den Umsatz in den nächsten Quartalen.

Nach dem Sommer könnten wir einen se­quen­tiellen Aufschwung sehen, aber die Ver­gleichs­basis ist 2023 (immer noch ein Re­kord­jahr), und da werden wir einen weiteren Rückgang sehen. Insgesamt sind einige Komponenten der Kon­so­li­die­rungs­kurve etwas voraus: Der Rückgang bei pas­si­ven und elektro­me­cha­nischen Kom­po­nen­ten war nicht so stark wie bei Halb­leitern. Aber alles in allem gibt es keine Entspannung im Jahr 2024. Deutschland, der größte Ein­zel­markt in der Dis­tri­bu­tion, ist auch das große Sorgenkind mit dem größten Rückgang beim Kom­po­nen­ten­verbrauch.

Zu Recht, sagen manche Kritiker. Wie oft habe ich schon gehört, der Handel sei mehr Teil des Problems als Teil der Lösung.

Ich reihe mich nicht in diese Phalanx der Distri­bu­tions-Basher ein, im Gegenteil. Ich bin überzeugt, dass es ohne die großen An­stren­gungen des Handels für viele Kunden noch schlimmer ge­kom­men wäre. Aus globaler Sicht war dies vielleicht die komplexeste Situation, die die Dis­tri­bu­tion je zu bewältigen hatte, mit Be­din­gungen, die von den Her­stel­lern diktiert wurden und die den Dis­tri­bu­to­ren oft kaum eine Wahl ließen. Man könnte sagen, dass das Pendel zurück­ge­schwungen ist.

Eines der Probleme, die ich während der ver­gan­ge­nen (aber sicher nicht der letzten) Ver­knap­pung beobachtet habe, war, dass viele Unternehmen nicht gut genug kom­mu­ni­zieren, um die Ein­schrän­kungen, Risiken und Ge­schäfts­mo­dell­ei­gen­schaften der Partner in der Lie­fer­kette besser zu ver­stehen.

Wir alle müssen versuchen, die Kom­mu­ni­ka­tion, den Datenfluss und die Prognosen zu verbessern (z. B. durch die An­wen­dung von ‚predictive Analytics‘), wenn wir eine einfache Wiederholung von 2021 und 2022 vermeiden wollen. Die In­stru­mente sind vorhanden, wir sollten uns auf Zusammenarbeit, Kom­mu­ni­kation und Vertrauen konzentrieren. Die Ver­triebs­ver­bände in ganz Europa haben sich an ihre Kollegen in der EMS-Industrie gewandt, in der Hoffnung, ein besseres Gespür für die kurzfristigen Bedürfnisse zu bekommen.

Wenn wir über das Jahr 2024 hinausblicken, müssen wir besser verstehen, was in den End­märkten unserer Kunden und in der Wirtschaft insgesamt geschieht (und ob, die Player dort auch die richtigen Entscheidungen treffen). Und wir müssen verstehen, welchen Einfluss die an­hal­ten­den geopolitischen, wirt­schaft­li­chen, ökologischen und sozialen Probleme auf unsere Branche haben werden.

Eine Einschränkung: Technologie wird die Probleme der Welt nicht lösen, aber sie kann helfen, sie zu mindern.

Und dieser Weg beginnt mit der Elektrizität.

Die größte Chance in Europa, wenn nicht gar die Rettung Europas, wäre die Kombination von Elek­tri­fi­zie­rung und Digi­ta­li­sierung fast aller technischen Funktionen, Lebens­be­dürf­nisse, Dienstleistungen, Infra­struk­tur­systeme. Der Präsident des Zen­tral­ver­bandes Elek­tro­tech­nik- und Elek­tro­nik­in­dus­trie (ZVEI), Dr. Gunter Kegel, spricht von der »All-Electric Society«.

In gewisser Weise haben wir bereits großartige Beispiele dafür gesehen, wozu Elektrifizierung in der Lage ist – Elektroautos werden das un­um­gäng­liche Fortbewegungsmittel sein, Wär­me­pumpen die effizienteste Art zu heizen und so weiter.

Um eine Gesellschaft in die Lage zu versetzen, vollelektrisch zu werden und damit die beste Energiequelle zu nutzen – Energieeinsparung mit Hilfe von besserer Elektronik und Di­gi­ta­li­sie­rung – braucht man eine Menge Kom­po­nenten.

Dies ist einer der Gründe, warum Markt­for­scher und Berater noch vor kurzem von einer Ver­dop­pe­lung des Marktes für elektronische Bauteile in weniger als zehn Jahren ausgingen. Die treibenden Kräfte würden die Auto­mo­bil­in­dustrie und die Industrie sein, weniger die Com­pu­ter­branche, schließlich sei Europa nicht unbedingt eine Hoch­burg der Computer- und Kom­mu­ni­ka­tions­technik.

Diese Annahmen basierten auf der Erwartung, dass europäische Unternehmen den Markt für Elek­tro­autos vorantreiben und in­telli­gente Elek­tro­autos mit neuen Fähig­keiten wie dem auto­nomen Fahren bauen würden – Autos, die eine zu­sätz­liche Lade­in­fra­struktur, intelligente Straßensysteme und mehr erneuerbare Ener­gie­er­zeu­gung unabhängig von der »alten« fossilen Welt benötigen.

Die vollelektrische Gesellschaft hängt davon ab, dass die Unternehmen die richtigen Dinge ent­wickeln, dass die Regierungen die richtige Infra­struk­tur, Unterstützung (nicht nur Sub­ven­tio­nen) und Spiel­regeln (keine Bürokratie) be­reit­stel­len, dass die Politiker und die Gesell­schaft den po­li­ti­schen Willen aufbringen, in die richtige Richtung zu gehen, und dass die Menschen aller Generationen daran teilhaben wollen.

Sind all diese Faktoren vorhanden? Ich fürchte, nicht in dem Maße, wie wir es uns wünschen und wie wir es alle brauchen.

Die Chancen stehen gut, dass die seit einigen Jahren zu beobachtenden populistischen Tendenzen zu einer Restauration der alten fossilen Kräfte führen werden und zu weniger Überzeugung, in eine rein elektrische Zukunft zu investieren.

Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, leidet stark unter der politischen Lähmung, der Exportschwäche (China wird als Absatzmarkt immer schwieriger) und der Erosion seiner einstigen Stärke in den Be­rei­chen Industrie, Bildung und Infra­struk­tur. Andere Länder wie Italien und Frankreich sind vielleicht weniger stark betroffen, aber ähn­liche Probleme gibt es überall auf dem Kontinent.

Das Bedauerliche ist, dass wir eigentlich alle Mittel in der Hand haben – eine starke wirt­schaft­liche und technologische Basis, die Konzepte für Ver­än­de­rungen und manchmal sogar die po­li­ti­schen Vi­sio­nen, um etwas zu verändern – nicht immer in allen Ländern, aber jedes hat etwas Gutes zu bieten, von dem andere lernen können. Es ist ein Geben und Nehmen. Wir brauchen mehr Ko­o­pe­ra­tion und Kommunikation und weniger Pessimismus und Egoismus.

Wenn wir uns auf die Vision einigen könnten, dass Strom die Energie­quelle für alles ist und dass ein sicheres, intelli­gentes (Will­kom­men KI!) und nach­hal­ti­ges »Netz« das Erste ist, was wir in ganz Europa in Ordnung bringen müssen, dann wären wir einen ent­schei­den­den Schritt weiter in Rich­tung einer Zukunft, die China bereits für sich ge­wählt hat.

Was hat mit der Distribution zu tun? Alles!

Zusammen mit unseren Zulieferern, die die Komponenten bauen, und unseren Kunden, die die notwendigen elek­tro­ni­schen Systeme schaffen, waren, sind und werden wir die Wegbereiter der industriellen Revolution in den letzten 60 Jahren und die Inkubatoren der vollelektrischen Revolution in den nächsten 20 Jahren und darüber hinaus sein.

Vielleicht wird 2024 nicht das Jahr sein, in dem sich alles ändert, sondern eher ein ge­brauch­tes Jahr, wie oben beschrieben, und vielleicht wird der Weg zurück zur Ver­dop­pe­lung des Marktes länger und stei­niger sein als ur­sprüng­lich angenommen. Aber er wird kom­men, ob 2029 oder 2032 hängt von uns und unserer Fähigkeit ab, auf gemeinsame Ziele wie eine elek­tri­fi­zierte Gesellschaft hin­zu­ar­beiten. Wir können es uns nicht leisten, diesen Moment zu verpassen.

© Bildmaterial, G. Steinberger

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