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Obsoleszenz­mana­gement – Stiefkind der Digi­ta­li­sie­rung

02. August 2024

»Obsoleszenzmanagement« – Das Stiefkind der Digitalisierung
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi e.V.

Künstliche Intelligenz überrollt der­zeit alles, was in der Industrie pas­siert – von der Kun­den­er­fahrung bis zur in­dus­tri­ellen Auto­ma­ti­sie­rung. Nennen wir es Digitali­sie­rung auf Steroiden. Sie wird die Art und Weise ver­än­dern, wie wir kon­su­mieren und produzieren.

Dazwischen liegt eine Lieferkette, die versucht, in Sachen Nahtlosigkeit, Belastbarkeit und Vorher­sag­bar­keit aufzuholen. Während dies schon schwierig genug ist, bleibt der un­ver­meid­li­che Zwischen­fall – die Obsoleszenz eines Teils, einer Soft­ware, eines Systems oder einer Dienst­leistung – nicht nur das häss­liche Stief­kind der Digi­ta­li­sie­rung, ganz zu schweigen von der »KI-ifizierung«, sondern wird auch nicht ernst genug genommen, sodass interna­tio­nale Standard­formate für Do­ku­men­tation und Pro­zes­se fehlen, ver­zögert oder nicht so an­ge­nom­men werden, wie sie sein könnten. Nennen Sie Ob­so­les­zenz das letzte Über­bleib­sel des Excel-Mana­ge­ments (kein Wortspiel beabsichtigt).

Wäre Obsoleszenz ein kleines Problem, könnte ich verstehen, dass das Mana­ge­ment sich nicht darauf kon­zen­triert oder die In­dus­trie nicht versucht, das Problem auf einer höheren und brei­teren Ebene anzugehen. Wo immer ich jedoch mit Ob­so­les­zenz-Ex­per­ten in der Nutzer­in­dustrie spreche, zeigt sich, dass der Obsoles­zenz­druck überall zunimmt, einerseits ge­trie­ben durch Lieferanten, die unter Kosten­druck stehen und sich auf die profi­tabels­ten Pro­dukte in ihrem Port­folio kon­zen­trie­ren (was zu Ob­so­les­zenz und Pro­dukt­än­de­rungen führt), anderer­seits durch kom­ple­xere Pro­duk­tions­um­ge­bungen mit al­tern­den Um­ge­bungen oder durch Produkte mit län­gerer Lebens­dauer und An­for­de­rungen an Sicher­heit­szerti­fi­zie­rungen.

Zwei Seiten einer Glei­chung, bei der Rea­litäten und An­for­de­rungen nur zu un­be­frie­di­genden Er­geb­nis­sen führen können.

 

SmartPCN könnte viel Frust auf Kundenseite vermeiden.

25.000 Euro pro Stunde Produktions­auszeit

Zwei Beispiele.

Erstens: Eine komplexe Pro­duktions­um­ge­bung, in der es zu einem Produktions­still­stand kommt, sieht sich leicht mit Kosten in Höhe von 25.000 Euro pro Stunde kon­fron­tiert, un­ab­hän­gig von der Ursache des Still­stands – einer davon könnte ein Bauteil- oder Soft­ware­fehler sein, und der Aus­tausch­pro­zess stößt auf das Problem der Ver­alte­rung des zu er­set­zen­den Artikels.

Zweitens: Ein medizinisches Gerät, z. B. ein Beat­mungs­gerät, fällt nach einigen Jahren der Nutz­ung aus, und das defekte Teil oder die Soft­ware ist nicht mehr ver­füg­bar. Der vom Kunden be­auf­tragte Her­steller hat keine andere Wahl, als das gesamte System aus­zu­tau­schen, im schlimmsten Fall muss er sogar das gesamte System mit neuen Teilen neu qualif­i­zieren.

Die schlimmsten Fälle zeigen, wo Obso­leszenz den größten Scha­den anrichtet: nicht in der Ent­wicklung (schlecht, aber beherrsch­bar), nicht in der Fer­tigung (sehr schlecht und teuer), son­dern im Feld! Während so­wohl Konstrukteure als auch Pro­duk­tions­leiter über Pro­zes­se verfügen und in einen Obso­les­zenz­pro­zess ein­ge­bunden sind, den ihr Un­ter­neh­men ent­wickelt hat, ver­fügen die War­tungs­teams vor Ort nur sel­ten dar-über und sind auf die Hilfe ihrer Kol­legen im vor­ge­la­gerten Wert­schöp­fungs­pro­zess an­ge­wiesen. Eine Grund­regel lautet: Je älter ein System, eine Ma­schine oder was auch immer ist, desto höher sind die po­ten­ziel­len Kosten für den Aus­tausch.

Ein milliardenschweres Problem, das schwerfällig verwaltet wird

Alle Branchen leiden unter Produktän­de­rungen oder -ausfällen, und die Gesamt­kosten für die globale Fer­ti­gungs­in­dus­trie müssen enorm sein – Milliarden und Abermilliarden von Euro. Es liegt auf der Hand, dass jeder, der auch nur im Ent­fern­tes­ten von diesem Problem betroffen ist, ein Interesse daran haben muss, das Problem – wir leben im 21. Jahrhundert – digital und unter Ein­be­ziehung der vor- und nach­ge­lagerten Liefer­ket­te zu lösen. Wie geht man also mit Ob­soles­zenz (auch be­kannt als Pro­dukt­ab­kündigung) und Pro­dukt­änderungen um? Excel und PDF!

In einigen Fällen wird ein Product-Lifecycle-Ma­na­ge­ment(PLM)-System eingesetzt, das eine Viel­zahl von Daten (PDFs) sammelt und Workflows zur Bear­bei­tung des Vorfalls erstellt.

Product-Change-Notifications (PCNs) und Product-Dis­con­ti­nuation-Notifi­cations (PDNs) sind das Herz­stück des heutigen Ob­so­leszenz­mana­ge­ments (OM). Ich werde nicht auf den Reifegrad des OM eingehen, da der Zweck dieses Kommentars ein anderer ist, nämlich der Status der PCNs / PDNs.

Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um rechtlich bindende Ver­pflich­tungen handelt, sondern dass die Her­stel­ler­firmen entweder ver­trag­lich ver­pflich­tet sind oder eine Kunden­dienst­ver­pflich­tung haben, PCNs und PDNs wei­ter­zu­geben, also fast aus­schließ­lich auf frei­will­iger Basis. Und jedes dieser Unter­neh­men ist ein ei­ge­nes Uni­ver­sum mit einer ei­ge­nen Stra­te­gie, einem eigenen Pro­zess und einem eige­nen For­mat für den In­for­ma­tions­aus­tausch.

Während eine Branche wie die der elek­tro­ni­schen Bau­ele­mente zu­min­dest das Prinzip des Aus­tauschs von In­for­ma­tionen über Ob­so­les­zenz und Än­de­rungen über­nom­men hat, sind andere viel­leicht noch nicht so weit, diese Infor­ma­tionen zu teilen, zumindest nicht in einem ge­eig­ne­ten Format. Ein Kunde in der Bau­ele­mente­in­dustrie kann sogar fort­ge­schrit­tene Formen von PCNs und eine hoch­auto­ma­ti­sierte Ver­ar­bei­tung dieser PCNs ver­lan­gen und ver­wen­den, aber sein Kunde hat viel­leicht noch nie eine PCN oder PDN gesehen.

Fehlendes Format und eine Flut von Änderungen

Das Format oder das Fehlen eines geeigneten, digital verwaltbaren Formats ist nicht das einzige Problem. Die schiere Menge an Produkt­än­de­rungen oder -ab­kün­di­gungen ist atem­be­raubend (man bedenke, dass ein einziger Vor­fall für viele Kunden ein mas­si­ves Problem dar­stellen kann). Ich kenne einen sehr an­ge­se­henen Her­stel­ler von elektro­ni­schen Bauteilen, der stündlich eine PCN oder PDN aus­gibt (fast 10.000 pro Jahr).

Ins­ge­samt kann die Kom­po­nenten­in­dustrie Zehn­tau­sende von Än­de­run­gen / Kün­di­gungen pro Jahr an ihre Kunden senden. Und da PCNs und PDNs manch­mal ganze Pro­dukt­fa­milien be­treffen, können am Ende Hundert­tau­sende von Kom­po­nenten be­troffen sein. Dies ist nicht über­ra­schend, da die gesamte In­dus­trie über ein kon­so­li­diertes Port­fo­lio von schät­zungs­weise 150 bis 200 Millionen ver­schie­denen Kom­po­nen­ten­va­rian­ten verfügt.

Es handelt sich jedoch um ein enormes Pro­blem, das sich nur in­ner­halb der Elek­tronik­in­dustrie be­wäl­tigen lässt. Zählt man die me­cha­nische In­dus­trie, die Soft­ware, die Dienst­leis­tungen, die Ma­te­ria­lien – alles, was in ein in­dus­triel­les Gerät einfließt – hinzu, sieht man sich mit me­hre­ren Klip­pen kon­fron­tiert, die es zu um­schiffen gilt.

Das typische Format einer PCN / PDN ist eine PDF-Datei. Diese PDFs werden von Her­stel­lern (zu­min­dest von elek­tro­ni­schen Bau­teilen), Händlern und Daten­dienst­leis­tern über Kata­loge, Web­sites und E-Mail-Dienste zur Ver­fü­gung gestellt, die auf ihre Produkt­an­for­de­rungen zu­ge­schnit­ten sind. So einfach ist das. Das Problem beginnt, wenn Sie zwei dieser PCNs ver­glei­chen, denn Sie werden fest­stellen, dass die kriti­schen Infor­ma­tio­nen an unter­schied­lichen Stel­len stehen oder das Do­ku­ment mit so vielen In­for­ma­tionen über Dutzende oder Hunderte von Pro­duk­ten über­laden ist, dass alles, was Ihr OCR-Leser aus dem PDF he­raus­lesen kann, sowieso ma­nuell be­ar­beitet werden muss. Welche Daten­punkte sind wichtig, welcher Teil des Do­ku­ments ist kritisch, was pas­siert, wenn es im Laufe der Zeit meh­rere PCNs pro Produkt gibt? Bei einer Produkt­ab­kün­digung könnte man sagen, WTF, mich interes­siert nur das Kün­di­gungs­datum, aber eine Produkt­än­derung kann viele Fa­cetten haben, die zu unter­schied­lichen Ak­tio­nen führen können.

PDF ist gut, aber nicht gut genug

Um dieses offensichtliche Durcheinander auf­zu­lö­sen, haben das Inter­natio­nal Institute of Obvso­les­cence Manage­ment (IIOM) und seine Mitglieds­un­ter­nehmen – viele nam­hafte Firmen, die jeder Kom­po­nenten­hersteller und -händler gerne als Kunden hätte – einen Prozess zur Stan­dar­di­sie­rung einer weiter­ent­wickel­ten Version von PCN / PDNs gestartet.

Die Lösung heißt SmartPCN. Es handelt sich dabei um ein XML-basiertes Datei­system, das kon­sis­tente Daten auf Meta­ebene er­mög­licht und Objekte wie Original-PDFs (mit möglicher­weise der ge­samten PCN-His­torie eines Produkts) ent­hal­ten kann, so­zu­sagen einen Con­tainer. Die Idee ist, dass die Smart-PCN über die gesamte Liefer­kette hinweg kon­sis­tent und verar­beit­bar ist – mit anderen Worten, eine echte Prozess­auto­ma­ti­sierung direkt in Ihrem PLM- oder ERP-System.

SmartPCN steht kurz vor der Verab­schie­dung als interna­tio­naler Standard IEC 64202 und wurde be­reits vom VDMA (Verband Deutscher Maschi­nen- und An­la­gen­bau e. V.) als VDMA 24903 über­nom­men – die erste und ein­zige natio­nale Über­nahme, der hof­fent­lich weitere folgen werden, so­bald der IEC-Stan­dard definiert ist.

Die Herausforderung besteht darin, mehr Unter­neh­men, ins­be­son­dere Kom­po­nen­ten­her­steller und -händler oder alle, die ein Vor­pro­dukt anbieten, davon zu über­zeu­gen, ihre eigene Insel der Glück­se­lig­keit (oder Igno­ranz) zu verlas­sen und diese Norm zu über­nehmen. Ja, es wäre mit Arbeit verbunden, aber stellen Sie sich vor, wie schnell und effizient dies geschehen könnte, wenn die Hersteller ent­we­der selbst ein KI-Tool benutzten, um ihre un­zäh­ligen PDFs in SmartPCNs um­zu­wandeln (es funk­tio­niert!), oder wenn sie Dienst­leister beauf­tragten, dies für sie zu tun.

Alles, was das KI-Tool (ein LLM-Tool wie GPT oder andere) braucht, um in Gang zu kommen, ist ge­nü­gend Lern­ma­terial, damit es mit jeder Wie­der­holung pro­fes­sio­neller wird. Heute, opti­mis­tisch geschätzt, sind 100.000 SmartPCNs (in der Elek­tro­nik­in­dustrie) aktiv ver­füg­bar, aber es werden Mil­lio­nen benötigt, um die ge­samte Liefer­kette zur Teil­nahme zu er­mu­tigen und die PDF-Kako­phonie zu be­enden (man stelle sich vor, einige Kom­po­nen­ten­her­steller können sich nicht einmal intern ent­scheiden, ein stan­dar­di­siertes PDF zu verwenden, sondern sie geben einfach ihr Daten­chaos weiter und lassen ihre Kunden im Regen stehen).

Wo sind die Hersteller und Distributoren?

Um es auf den Punkt zu bringen: Distributoren und Hersteller könnten mehr dazu bei­tragen, dass dieser Stan­dard an­ge­nom­men wird. Aber das würde bedeuten, an den ent­spre­chenden IIOM-Meetings teil­zu­nehmen; aber die we­nig­sten sind Mit­glieder, beim letzten glo­balen Meeting habe ich einen Her­stel­ler auf der An­we­senheits­liste gesehen und keinen Fran­chise-Distributor!

Die Makler treffen sich, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das ist ge­lin­de ge­sagt eine ver­passte Chance. Als Vor­sitzen­der des Fach­ver­bandes Bau­ele­mente-Distribution (FBDi) kann ich nur sagen »Sorry, dass wir es nicht bes­ser ge­macht haben«. Ich werde ver­suchen, die Unter­stüt­zung für Smart-PCN in der Dis­tri­bution zu erhöhen.

© Bildmaterial, FBDi e.V.; Smartpcn.org

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